Klimaschutz: Greenwashing mit Schweizer Wald

Nr. 16 –

Schweizer Wälder werden für CO₂-Kompensationen zertifiziert. Zu den Käufer:innen gehört die Fluggesellschaft Swiss, und auch der Staat rechnet sich die Wälder ans nationale CO₂-Budget an. Kann der Wald das leisten?

Wald oberhalb Jenaz
Die Forstarbeit ist über die Holzerträge nicht mehr finanzierbar, die Eigentümer:innen suchen nach neuen Geldquellen. Wald oberhalb Jenaz. Foto: Christian Gujan

In der Region Prättigau im Kanton Graubünden gibt es schöne ausgedehnte Wälder mit Fichten, Lärchen, Bergföhren und Arven. Sie erfreuen Spaziergänger:innen, bieten Unterschlupf für Wild – und sie entziehen der Luft viel CO₂ und lagern Kohlenstoff in Holz und Boden ein. Das lässt sich kapitalisieren. Zwölf öffentliche Waldeigentümer:innen im Prättigau haben über 13 000 Hektaren Wald für die Klimakompensation registrieren lassen, das entspricht der Fläche von Zürich- und Bielersee zusammen. Über Klimazertifikate wollen sie die CO₂-Senkenleistung dieser Wälder auf den Markt bringen. Über 33 000 Tonnen CO₂ sollen der Atmosphäre jährlich entzogen werden. Das haben die Projektentwickler berechnet.

Gekauft werden diese Zertifikate unter anderem von der Fluggesellschaft Swiss. Zu seinen Zielen schreibt das Unternehmen auf Anfrage, es nutze solche Klimaschutzprojekte, um «bis 2030 die Netto-CO₂-Emissionen […] gegenüber 2019 zu halbieren». Die Airline will damit «messbaren Klimaschutz und mehr Nachhaltigkeit auf der ganzen Welt fördern», steht auf der Website.

«Was Swiss macht, funktioniert nicht», sagt Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. «Es gibt absolut keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass mit der Erhaltung von Wäldern in der Schweiz – nicht einmal mit neuen Bäumen – Flugemissionen kompensiert werden könnten.» Die Modelle des Weltklimarats IPCC, die einen Weg aufzeigen, wie sich die Erwärmung bei 1,5 Grad begrenzen lassen könnte und wie gross unser verbleibendes Kohlenstoffbudget dafür noch ist, rechneten bereits mit ein, dass die gesamte Biosphäre auf der Erde geschützt wird. Die Staaten haben sich im Rahmen des Klimaabkommens von Paris dazu verpflichtet, die verbleibenden Wälder zu schützen.

«Aus der Not heraus»

Hinter dem Kompensationsprojekt in Davos/Prättigau steht der 2019 gegründete Verein Wald-Klimaschutz Schweiz. Er listet auf seiner Website sechzehn Waldkompensationsprojekte aus der Schweiz auf. Laut eigenen Angaben repräsentiert der Verein über 6000 Waldeigentümer:innen, die im Besitz von 12,5 Prozent der gesamten Schweizer Waldfläche sind. Sie verzichten während mindestens dreissig Jahren teilweise auf eine Nutzung des Waldes. Der zusätzliche Kohlenstoff, den die Bäume während dieser Zeit in ihren Stämmen einlagern, wird als CO₂-Reduktion in Form von Klimazertifikaten verkauft.

«Der Verein wurde aus der Not heraus gegründet», erklärt Geschäftsführer Simon Tschendlik. Der gelernte Forstingenieur ist Koleiter der Forstbetriebe Frenkentäler, die für elf Gemeinden im Kanton Baselland die Wälder bewirtschaften. In der Waldbranche herrsche ein gravierendes Politik- und Marktversagen: Über Jahrhunderte sei die Forstarbeit hauptsächlich über die Holzerträge finanziert worden, doch das funktioniere nicht mehr. «Mit dem Klimawandel kommen wahnsinnig viele Herausforderungen auf die Waldeigentümer zu», sagt Tschendlik, der für die Grünen im Baselbieter Landrat sitzt. Diese liessen sich aus dem Erlös des Holzes nicht mehr finanzieren. «Wir wollen die CO₂-Senkenleistung, die der Wald als Ökosystemleistung erbringt, in Wert setzen, um die nachhaltige Waldbewirtschaftung zu finanzieren.» Neunzig Prozent der Erlöse aus den Zertifikaten gehen an die Waldeigentümer:innen, die sich per Selbstdeklaration verpflichten, dieses Geld für Massnahmen zum Erhalt der Waldqualität und zur Stärkung der biologischen Vielfalt einzusetzen. Zehn Prozent gehen an den Verein.

Christian Körner, emeritierter Professor für Botanik an der Universität Basel, kann dieser Art von «Inwertsetzung» des Waldes wenig abgewinnen. Er sieht darin vor allem viel Potenzial für Greenwashing. Die Praxis, Bäume zugunsten des Klimaschutzes länger stehen zu lassen, sei nicht zu Ende gedacht. «Das ist eine Massnahme mit Ablaufdatum, denn die zusätzliche Kohlenstoffspeicherung ist zeitlich begrenzt.» Die verzögerte Ernte führe zudem dazu, dass weniger Holz als Baustoff eingesetzt oder dieses aus dem Ausland importiert werde. Für den Ersatz von CO₂-intensiven Baustoffen wie Zement und Beton ist Holz jedoch zentral. Die Zementproduktion verursacht rund acht Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen. Wenn der Holzvorrat im Wald zum Ausstellen von Klimazertifikaten vergrössert werde, bedeute dies vor allem, dass das benötigte Holz woanders bezogen werde, so Körner. Zwar werde der zertifizierte Kohlenstoffspeicher geschont, gleichzeitig aber ein anderer geleert. «Dann bleibt vom Klimaeffekt über diesen Zeitraum nicht mehr viel übrig.»

Körner sieht noch ein anderes Problem:­ «Je älter Bäume sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie von einem Sturm umgelegt werden.» Die sommerlichen Hitzewellen und Borkenkäfer setzen dem Wald ebenfalls zu, und auch Waldbrände werden zunehmen. Dadurch wird immer schwieriger abschätzbar, wie viel Kohlenstoff im Wald tatsächlich gespeichert werden kann. «Ich frage mich, ob diejenigen, die die Zertifikate ausstellen, bei einem Waldbrand oder Sturm den Käufern die verlorenen Kompensationsleistungen zurückbezahlen», sagt Körner.

Zweimal kompensiert

Simon Tschendlik lässt diese Kritik nicht gelten. Regelmässig werde gemessen, wie gross der Zuwachs an Biomasse sei und wie viel CO₂ von den Bäumen tatsächlich absorbiert werde. Die Zertifikate würden rückwirkend für das vergangene Jahr vergeben. «Es wird immer nur verkauft, was tatsächlich nachgewachsen ist.» Anders ist es bei Zertifikaten, die für neu geschaffene Naturreservate ausgestellt werden. Dort werden die Wälder vollkommen sich selbst überlassen; der Verein nennt dies einen «Nationalpark light». In diesem Fall basieren die Zertifikate auf Modellrechnungen für den Zuwachs der Bäume in den kommenden fünfzig Jahren. «Aber diese sind ultrakonservativ», beteuert Tschendlik. «Es werden ganz viele Faktoren berücksichtigt, wie die Mortalität der Bäume oder das Risiko von Sturmereignissen.»

Selbst wenn die Modellrechnungen aber zutreffen sollten, ist der Effekt für den Klimaschutz höchst fraglich. Denn nicht nur die Swiss nutzt Schweizer Wälder, um ihre Klimaziele zu erreichen, sondern auch der Schweizer Staat – mit dem gleichen Wald wird also zweimal kompensiert. Laut dem Bundesamt für Umwelt (Bafu) wurden beinahe vierzig Prozent der Schweizer Reduktionsverpflichtung im Rahmen des Kyoto-Protokolls von 2008 bis 2012 den Wäldern angerechnet. In der zweiten Kyoto-Verpflichtungsperiode 2013 bis 2020 waren es sieben Prozent, weil das Reduktionsziel deutlich grösser war und die Anrechnungsmodalitäten geändert wurden. Die CO₂-Bilanz des Schweizer Wald- und Holzsektors wird jährlich berechnet und im Schweizer Treibhausgasinventar ausgewiesen. Wie viele Millionen Tonnen CO₂ die Schweiz sich im Rahmen des Übereinkommens von Paris durch ihre Wälder anrechnen lässt, wird erst nach Abschluss der aktuellen Berechnungsperiode 2032 bekannt.

Tschendlik sagt, das Bafu habe dem Verein Wald-Klimaschutz 2017 bescheinigt, dass es zu keinen Doppelzählungen komme, dass die CO₂-Absorption eines Baumes also nicht sowohl für den Bund als auch für die Swiss gezählt werde. Auf Anfrage schreibt das Bafu, die Bestätigung behalte ihre Gültigkeit «für Zertifikate im freiwilligen Privatmarkt, die in Anlehnung an die Kyoto-Protokoll-Regeln verkauft wurden». Jedoch kontrolliere das Bafu die Aktivitäten des freiwilligen Marktes nicht und «kann eine Doppelausweisung oder Doppelzählung somit nicht verhindern, erachtet sie aber als kritisch».

Wie kann ein Bundesamt eine «Bestätigung betreffend Doppelzählungen» ausstellen, wenn es potenzielle Doppelzählungen gar nicht kontrolliert und beaufsichtigt? Harald Bugmann, Professor für Waldökologie an der ETH Zürich, teilt die Einschätzung, dass es bei Klimazertifikaten mit Schweizer Wald zu Doppelzählungen komme. «Da die Senkenleistung des Schweizer Waldes bereits in unser Treibhausgas-Reporting eingeht, halte ich die Wirkung von CO₂-Reduktionen bei Kompensationen in aller Regel für nicht gegeben.»

Solche Doppelzählungen betreffen nicht nur die Swiss, sondern grundsätzlich Unternehmen, die ihre CO₂-Emissionen mit Schweizer Wald kompensieren. Doch selbst die fragwürdige Bafu-Bescheinigung schliesst die Nutzung von Schweizer Wäldern für «CO₂-Emissionen aus dem internationalen Flugverkehr» explizit aus, weil diese nicht in der Schweiz, sondern im Ausland anfallen. Trotzdem dient die Doppelzählung der Airline aktuell dazu, weiter zu wachsen, weiter Kerosin zu verbrennen und zusätzliche Flüge zu verkaufen, während es auf dem Papier so aussieht, als sei das Unternehmen auf Kurs, um zur Erreichung der Klimaziele von Paris – netto null CO₂ bis 2050 – beizutragen. Und dies obschon Swiss letztes Jahr 130 000 Flüge absolvierte, fast ein Viertel mehr als im Vorjahr. Und obschon die Airline mit einem Umsatz von 5,3 Milliarden Franken und einem Gewinn von 718,5 Millionen Franken das stärkste operative Ergebnis ihrer Firmengeschichte erzielte.

Budget deutlich überschritten

Tschendlik sagt, der Verein Wald-Klimaschutz Schweiz habe keine Kontrolle darüber, wofür seine Waldzertifikate eingesetzt würden. Diese werden von Zwischenhändlern an die Unternehmen vermittelt. Im Fall des Projekts Davos/Prättigau ist die Vermittlerin zwischen dem Verein und Swiss die Stiftung Myclimate. Auf Anfrage preist deren Kogeschäftsleiterin Kathrin Dellantonio die Klimaschutzbemühungen der Lufthansa-Gruppe, zu der die Swiss gehört. Das Unternehmen übernehme «zeitnah Verantwortung ausserhalb der eigenen Wertschöpfungskette» und habe keine andere Wahl, als auf Kompensationen zu setzen. Es gebe in der Luftfahrt noch keine breit einsetzbare Alternative zu Kerosin. Weiter betont sie, dass die Lufthansa-Gruppe nebst Kompensationen auch umfassende und wissenschaftsbasierte Reduktionsmassnahmen treffe, um die eigenen Emissionen real zu senken.

Im letzten Bericht der World Benchmarking Alliance (WBA) von 2022, die den Übergang von Unternehmen hin zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaftsweise beurteilt, zeigt sich ein anderes Bild. Dort lag die Lufthansa-Gruppe im unteren Mittelfeld und auch hinter Fluggesellschaften wie Ryanair, Air France-KLM oder American Airlines. Fazit der WBA: «Es wird erwartet, dass die kumulierten Emissionen von Lufthansa ihr Kohlenstoffbudget für den Zeitraum 2022–2036 deutlich überschreiten werden.»

Sind Investitionen der Privatwirtschaft in Wälder im Rahmen ihrer Nachhaltigkeitsstrategie grundsätzlich Greenwashing? Nein, sagt Johan Rockström vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. «Wir brauchen unbedingt mehr Investitionen in vielfältige Wälder und gesunde Böden, die mehr Kohlenstoff aufnehmen und die Biodiversität unterstützen.» Aber all das müsse zusätzlich zu drastischen Emissionsreduktionen geschehen, nicht als Kompensation für diese.

Swiss wäre also nur glaubwürdig, wenn das Unternehmen auch die Anzahl Flüge reduzieren und den Umbau zu einem nachhaltigen Transportunternehmen einleiten würde. Der Bund könnte dies unterstützen, indem er eine Kerosinsteuer oder Umweltabgaben einführte und die zusätzlichen Erlöse selbst in den Waldschutz steckte. Dann könnten sich auch die Förster:innen wieder auf ihr Kerngeschäft konzentrieren: auf die nachhaltige Bewirtschaftung des Waldes als wichtigen Beitrag zum Klimaschutz.

Samuel Schlaefli und Olivier Christe sind Teil eines Journalist:innenkollektivs, das den monatlichen Klimapodcast «Treibhaus» (treibhauspodcast.ch) produziert. Dieser Artikel basiert auf Episode 49.